Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich danke herzlich für die Einladung, heute und hier aus meinem beruflichen Alltag zu berichten und vielleicht sogar einen Bezug zum Vaterunser herzustellen. Das erste fällt mir leicht, das zweite nicht so sehr, vielleicht schaffe ich es aber doch…

Zu meiner Person:

Ich bin Christ, Mitglied der Kirche, eifriger Kirchensteuerzahler, aber nicht gläubig. Kulturchrist, könnte man sagen: Die 10 Gebote, das gute Miteinander, Werte und bestimmte Traditionen gehören für mich zum Leben dazu  Ich halte die Kirche für eine gute, sinnvolle und absolut notwendige Einrichtung, zu der ich auch stehe. Wenn wir die 10 Gebote nicht hätten, auf denen unsere Gesetze beruhen, die das friedliche und gewaltfreie Miteinander von uns Menschen in einem Gemeinwesen regeln, würde Chaos herrschen. Die Kirche bringt uns Mitgliedern der verschiedenen Gemeinwesen diese Gebote nahe und wir erhalten von frühester Jugend an so Hinweise, was gut und nicht so gut ist und wie man sich verhalten sollte, um das Gemeinwohl nicht zu gefährden. Dazu stehe ich. Ob ich an Gott glaube, spielt da eigentlich eine untergeordnete Rolle. Ich bin auch ehrenamtlich tätig, mehrfach in Diakonischen Einrichtungen, wo ich mit meinem Wissen und meiner Erfahrung helfen kann. Das hat in unserer Familie Tradition, mein Vater war Direktor des Diakonischen Werkes, damals noch von Kurhessen-Waldeck, und zwar nicht als Theologe, sondern als Kaufmann, er war Dipl.-Kfm., also Betriebswirt. Meine älteste Tochter ist Theologin und Pfarrerin, sie hält gelegentlich auch Gottesdienste in Baunatal. So viel zu meiner Person.

Beruflich – und das interessiert hier eigentlich mehr – bin ich RA und seit über 35 Jahren fast ausschließlich als Konkursverwalter, neuerdings Insolvenzverwalter genannt,  tätig. Unsere Kanzlei Westhelle und Partner gehört zu den großen deutschen Insolvenzkanzleien, mit ca. 200 Mitarbeitern spielen wir bei den ersten 10 dieser speziellen Branche schon eine Rolle, worauf ich auch durchaus stolz bin. Wir hatten nach 1990, nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, in Thüringen wahnsinnig viel zu tun, als dort alles drunter und drüber ging und große und größte Unternehmen in die Pleite rutschten. Bis dahin hatte ich in meinem beruflichen Leben die Konkurse eigentlich immer ganz gut hinbekommen, viel saniert und wenige Betriebe geschlossen. In einem Fall hatte ich eine Klinik über 7 Jahre in der Insolvenz weitergeführt, bis ich sie endlich verkaufen konnte. Jetzt kam da aber ein Unternehmen, das Spezialwerkzeuge für Trabantautos herstellte. Die Nachfrage war von einem auf den anderen Tag auf 0 gesunken, diese Werkzeuge brauchte niemand mehr, weil auch niemand mehr einen Trabant haben wollte. Ich musste zum ersten Mal in meinem Leben über 1000 Kündigungen von Arbeitnehmern unterschreiben. Das fand ich ganz schlimm und habe mehrere Nächte kaum geschlafen und nach Möglichkeiten gesucht, das Unternehmen doch irgendwie weiter führen zu können. Es gab aber keine Möglichkeit.

Insolvent zu sein bedeutet wörtlich übersetzt „nicht flüssig“, also zahlungsunfähig, pleite. In der Regel ist das die Folge dessen, dass das vorhandene Vermögen geringer ist als die Summe der vorhandenen Verbindlichkeiten, also der Schulden.

Insolvenzen kommen in zwei Formen vor, die bei den Gerichten auch unterschiedliche Aktenzeichen bekommen, nämlich zum einen die sog. „Verbraucherinsolvenzverfahren“, zum anderen die Regelinsolvenzen. Verbraucher in diesem Sinne sind Sie und ich mit dem Lohn, den wir uns erarbeiten. Verbraucherinsolvenz heißt: Wir haben uns übernommen, zu viel auf Raten gekauft und sind dann arbeitslos geworden und können mit dem geringeren Einkommen die Raten nicht mehr abbezahlen.

Diesen Leuten geht es normaler Weise im Insolvenzverfahren nicht schlechter als vorher. Ihnen wird in der Regel schon vor dem beantragten Insolvenzverfahren der Lohn von den Gläubigern gepfändet, also von dem Inhaber des Geschäfts, in dem sie den riesigen Fernseher oder die neue Küche erworben haben. Sie erhalten nur noch den sog. unpfändbaren Teil ausbezahlt, der gerade mal so zum kargen Leben reicht – wenn sie überhaupt arbeiten und nicht von Hartz 4 oder Arbeitslosengeld leben. Auch im Fall der Insolvenz wird ihnen der pfändbare Teil genommen, das sind sie aber in der Regel schon gewohnt, sodass es ihnen in der Insolvenz zuweilen sogar besser geht als vorher. Sie erhalten keine dauernden Mahnungen mehr, müssen nicht mehr alle drei Jahre ihr Vermögen offenbaren und eidesstattlich die Richtigkeit versichern und sie leben von der Hoffnung, dass ja nach sechs Jahren alle Schulden erlassen werden, wenn sie sich bis dahin ordentlich verhalten, keine neuen Schulden machen und sich um Arbeit bemühen. Ein vollständiger Schuldenerlass –Vergib uns unsere Schuld. Erlassene, vergebene Schuld ist eine neue Chance: Dann kann man versuchen, noch einmal durchzustarten und vielleicht ein paar Rücklagen zu bilden, vielleicht auch wieder einmal in Urlaub zu fahren. Wer ein Insolvenzverfahren über sich ergehen lassen muss, hat mit Sicherheit Schulden und in der Regel nicht zu knapp. Ob er auch Schuld daran hatte, ist eine völlig andere Frage. Ist es vorwerfbar, wenn Eltern ihre Kinder fördern wollen und deshalb Schulden machen, die sie dann vielleicht nicht zurückbezahlen können? Ist der Arbeitnehmer schuld, wenn sein Arbeitgeber insolvent wird und er seinen Arbeitsplatz verliert? Ist es persönliche Schuld, wenn man nur, vielleicht nicht einmal, den Hauptschulabschluss schafft und nicht in der Lage ist, eine Familie zu ernähren, die aber nun einmal da ist? Ich möchte diese Fragen nicht entscheiden.

Die sog. Regelinsolvenzverfahren sind da schon von ganz anderer Qualität. Hier geht es um Unternehmen mit 10, 50 oder einigen hundert oder gar einigen 1000 Mitarbeitern. Da haben wir einmal die Arbeitnehmer, die natürlich sofort um ihren bisher vielleicht sicher geglaubten Arbeitsplatz fürchten, die vielleicht schon mehrere Monate keinen Lohn mehr bekommen haben und sich mühsam in dieser Zeit durchschlagen mussten. Interessant übrigens, dass es den Menschen auf dem Land besser gelingt, in solchen Situationen zurecht zu kommen. Dort gibt es noch eine andere Verbundenheit zwischen den Menschen, die sich näher sind und besser kennen als in der anonymen Stadt, dort ist das ganz schwierig, wenn man nicht auf gute Freunde oder die Familie vertrauen kann, die einem die helfende Hand reichen.

Oft habe ich in Betriebsversammlungen zu Beginn eines Insolvenzverfahrens aggressive und aufgewühlte Mitarbeiter erleben können, die meinten, sie seien betrogen worden und als Ausgleich für verloren geglaubte Gehälter erstmal alles mitgenommen haben was nicht niet- und nagelfest mit dem Betriebsgebäude verbunden war.

Neben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit ihrer persönlichen Verbindung zum Unternehmen und zum Gehalt sind da auch die Gläubiger des Unternehmens. Diese haben zum Beispiel das Material geliefert, was im Unternehmen weiterverarbeitet, aber bisher nicht bezahlt wurde. Sie haben teilweise enorm hohe Außenstände und müssen nun befürchten, darauf sitzen zu bleiben und schwere Verluste in Kauf zu nehmen, die die Existenz des eigenen Unternehmens gefährden könnten. Es gibt eine Faustregel, dass ein Regelinsolvenzverfahren mindestens ein weiteres nach sich zieht. Kleinere Unternehmen, die Materialien geliefert haben, sind so häufig selbst von Insolvenz bedroht, die Banken dagegen meistens gut abgesichert, sonst hätten sie ja die Darlehen nicht ausgereicht.

Und da sind die Inhaber, die bislang wahrscheinlich ein höheres Einkommen hatten als der Durchschnitt der Bevölkerung. Mit einem Schlag ist das alles weg, das Eigenkapital des Unternehmens verbraucht, ein Berg von Schulden aufgehäuft, das letzte private Geld hat man auch noch hineingesteckt, um den drohenden Konkurs noch abzuwenden, aber es hat alles nichts genützt. Jetzt stehen sie vor dem Scherbenhaufen, sehen keine Zukunft für sich und müssen noch befürchten, aufgrund von den Banken auch privat verlangter Bürgschaften persönlich in Anspruch genommen zu werden, was unweigerlich auch ein persönliches Insolvenzverfahren nach sich zieht. Jetzt erfahren sie erst von uns Insolvenzverwaltern, dass sie keine Nettolöhne hätten zahlen dürfen, ohne zeitgleich die Sozialversicherungsbeträge abzuführen und dass sie sich dadurch sogar strafbar gemacht haben. Strafbar auch weil sie den Insolvenzantrag für die GmbH oder die GmbH & Co KG oder die AG zu spät gestellt haben, sodass die Sanierungsmöglichkeiten in der Insolvenz wegen dieses fatalen Zeitablaufs nahezu unmöglich geworden sind. Man kommt als Unternehmer zuweilen von ganz oben und fällt fürchterlich tief, was für viel nicht zu verkraften ist.

Hinzu kommt ja auch die Ächtung durch unsere Gesellschaft. Das war früher noch viel schlimmer, gilt aber auch noch heute. Als die KO im 19. Jahrhundert geschaffen wurde, war es nahezu üblich, dass der Unternehmer sich den guten Anzug anzog, seinen Zylinder aufsetzte, zum Gericht ging und einen Konkursantrag stellte, danach in sein Büro ging, sich an den Schreibtisch setzte und sich erschoss. Ich hatte das in meiner beruflichen Laufbahn zum Glück noch nie, aber ein Kollege aus meinem Büro, wesentlich jünger als ich, hatte zweimal den Freitod eines Geschäftsführers bzw. Inhabers zu beklagen.

Ist es meine Schuld, wenn über mein Unternehmen ein Insolvenzverfahren eröffnet werden muss? Ist es nachvollziehbar, wenn meine früheren Arbeitnehmer, meine Lieferanten und sonstigen Gläubiger die Straßenseite wechseln, wenn sie mich kommen sehen? Deren Verärgerung ist mit Sicherheit nachvollziehbar, aber ist es die Schuld des Unternehmers? Oder sind es die Umstände, sodass ich gar nichts dafür konnte? Das kann ein Außenstehender fast nie beurteilen. In weit mehr als 80 % sind es Managementfehler, also schon ein Verschulden der Unternehmensleitung. Aber hier ist zu unterscheiden: Ist es absichtlich, wissentlich gewesen, vielleicht sogar kriminell, im Wissen um den Schaden für andere? Hat der Unternehmer vorher das Vermögen auf die Seite geschafft, ggfs. ins Ausland, wohin er sich dann auch absetzen will? Oder war er vielleicht einfach nur leichtsinnig, unerfahren, oder einfach nur blöd?

Die wirklichen Kriminalinsolvenzen sind äußerst selten. Dann erstatte ich durchaus auch Strafanzeigen, im schlimmsten Fall hat ein Inhaber eine Freiheitsstrafe von 8 Jahren bekommen. Damals habe ich miterleben müssen wie sich jemand wirklich kriminell und boshaft verhalten hat. Nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, alles beiseite geschafft. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Regen stehen lassen. Da kann man dann wohl schon von Schuld sprechen. Und da gibt es dann auch Betroffene, die es schwer haben mit dem „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Das aber sind Ausnahmen. In der Regel ist es, wie schon gesagt, Leichtsinn, mangelnde Erfahrung oder schlicht Blödheit.

Sie alle haben gehört und gelesen von der MEG AG, Herrn Göker. Für mich kein Kriminalfall. Erst nach der Insolvenz hat er versucht, sein Privatvermögen vor dem Zugriff zu retten und hat Daten, die er nicht nutzen durfte, gleichwohl an sich gebracht, um ein neues Unternehmen aufzubauen. Vorher war da ein junger unerfahrener Mann, der gute Arbeit geleistet hat, sodass er von den Versicherungsgesellschaften umworben wurde, die ihm sogar riesige Summen an Vorschüssen zahlten, damit er seinen Kunden ihre Versicherungen empfahl. Er ist so schnell zu so viel Geld gekommen, dass er damit überhaupt nicht zurechtkam. Er kaufte sich einen Rolls Royce und fuhr damit durch Kassel – durch KASSEL!!! Er machte mit leitenden Mitarbeitern Reisen nach Las Vegas, kaufte dort im Lokal Rotwein für 1.000 $ pro Flasche und seine Mitarbeiter tranken teilweise den Essig aus ähnlich aussehenden Karaffen und lobten das gute Aroma des teuren Weins. Blöd, leichtsinnig, unerfahren, einfach dämlich das alles. Da haben andere –z.B. die Versicherungen, die Claqueure, die Berichterstatter – ein gutes Stück mitgewirkt daran, dass es so weit kommen konnte. Es ist nicht alles allein Gökers Schuld. Da passt auch, dass im Vaterunser gar nicht von Einzelnen, sondern von wir und uns die Rede ist:

Herr, vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Insolvenzverwalter ist ein eigener Beruf. Wir sind gegenüber den Unternehmen, die wir zu sanieren versuchen, vollkommen neutral, weil wir unsere Aufträge vom Gericht bekommen und das Gericht zuvor immer fragt, ob wir mit dem insolventen Unternehmen schon irgendetwas zu tun hatten. Ich habe in meinem Beruf gelernt, das Schulden in aller Regel nichts mit Schuld zu tun haben, nur in seltenen Ausnahmen dann eben doch.

Darum finde ich es gut, dass es das staatlich regulierte Verfahren gibt, mit dem man seine Schulden erlassen bekommt und einen Neuanfang versuchen kann. Wir sollten das auch tun und unseren Schuldnern vergeben, wenn sie nicht in der Lage sind, das zu bezahlen, was sie uns schulden. Ich persönlich werde nächsten Monat 65 Jahre alt und habe seit 5 Jahren keine großen Verfahren mehr übernommen, weil die doch oft länger als 10 oder 15 Jahre dauern und ich nicht im ganz hohen Alter noch damit zu tun haben will. Seitdem übernehme ich zeitlich überschaubare Projekte, indem ich Personen schneller als sonst mit sechs Jahren üblich entschulde, in der Regel schaffe ich das in einem halben Jahr. Das ist eine sehr schöne Tätigkeit, weil die Freude bei den überschuldeten Menschen unglaublich groß ist, wenn sie nach langer Zeit endlich ihre Schulden und damit natürlich auch einen Makel losgeworden sind und praktisch ein neues Leben beginnen können, endlich wieder mit einer Geldkarte, auf die der Automat in der Bank in angemessener Weise reagiert.

Lassen Sie uns unseren Schuldnern vergeben und uns mit ihnen freuen, wenn sie dieses Vergeben spüren können und wissen, dass man ihnen auch ihre – wie auch immer geartete – Schuld vergeben hat.

Amen

Dr. Fritz Westhelle,

Rechtsanwalt,
Fachanwalt für Insolvenz- und Arbeitsrecht