AUF DEM WEG NACH SANTIAGO DE COMPOSTELA (IV)

Samstag, 13.10.2012        Ankunft in Lausanne

 

Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt. Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand, sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.

 

Das Lied hat uns schon in den letzten Jahren auf unserer Pilgerreise begleitet und beschreibt den ersten Schritt, den der man tun muss, um sich in einen Pilger zu verwandeln. Dieses Jahr haben sich 36 Menschen zusammengefunden, um den vierten Abschnitt ihrer Pilgerfahrt nach Santiago und den ersten Abschnitt auf französischem Boden zu beginnen. Vor drei Jahren sind wir in Würzburg aufgebrochen, nachdem die Gruppe schon vier Jahre lang auf deutschen Pilgerwegen unterwegs war.

Unser Reisebus startet in Baunatal, wir müssen jedoch an verschiedenen Raststätten unsere Mitpilger aus den südlichen Teilen Deutschlands einsammeln, die sich uns im Laufe der Zeit angeschlossen haben, weil sie durch Zeitungsartikel oder Berichte von Freunden neugierig geworden sind.

In Lausanne werden wir sehr herzlich empfangen: Zur Begrüßung gibt es ein reichhaltiges Fingerfood-Buffet: Bündener Fleisch, Wein und Salzgebäck. Die Gastfreundschaft steigert sich noch bis zu einem wunderbaren Käsefondue. So könnte Pilgern doch jeden Tag sein! Ein solch herzlicher Empfang seitens der Gemeinde werden wir so schnell wohl nicht mehr erleben: Die Quartiere, die vor uns liegen, werden nicht wie in den Jahren zuvor hauptsächlich in Gemeinden liegen, sondern Dorfgemeinschaftshäuser, Campingplätze oder einfache Wanderherbergen sein.

Vor uns liegen 300 Kilometer Wegstrecke, Ungewissheit über das Wetter, die Tauglichkeit unserer Füße, ein fremdes Land und viele Eindrücke.

 

 

Sonntag, 14.10.2012        Lausanne nach Neydens

 

Vor Beginn der Morgendämmerung – um 4:45 Uhr – werden wir durch fröhlichen Gesang zum Aufstehen bewegt. Ungewohnt ist nicht nur die Uhrzeit, sondern auch, dass wir unseren Schlafplatz – Isomatten und Schlafsäcke - sofort zusammenpacken, um wenig später auch das gemeinsame Frühstück mit Gesang zu beginnen.

Durch das noch dunkle Lausanne laufen wir hinab zum Ufer des Genfer Sees. Der See ruht still im ersten Morgenlicht und bietet eine wunderbare Kulisse für unseren Morgengruß: Du Geist des lebendigen Gottes, erfrische mich wie Tau am Morgen. Öffne mich - fülle mich -forme mich -  brauche mich. Für Außenstehende mag das wie Gymnastik aussehen, denn wir sprechen die Worte nicht nur, sondern führen entsprechende Bewegungen dazu aus. Am Ufer entlang „greift“ der See mit feuchten Fingern nach uns und einige bekommen nasse Füße. Kaum sind wir ein wenig eingelaufen, steigen wir auch schon in den Zug und fahren nach Genf. Hier beginnt die „Via Gebennensis“, der Abschnitt des Jakobsweges, der bis nach Le Puy führt und dort mit anderen Abschnitten zusammen zu treffen. In der Cathédrale Saint-Pierre singen wir, was bei Gottes Bodenpersonal jedoch nicht auf positive Resonanz stößt. Die Kirche, erfahren wir, sei kein Selbstbedienungsladen und wir dürften gern zu den regulären Gottesdienstzeiten wiederkommen. Einen Stempel für unsere Sammlung bekommen wir trotzdem. Bei dem langen Marsch durch die Innenstadt grüßt uns von Ferne immer wieder die riesige Wasserfontäne, ein Wahrzeichen von Genf.

Erst am Nachmittag finden wir einen ruhigen Platz, an dem uns unsere Fahrer und Küchenengel schon mit Broten, Äpfeln und handlich geschnittenem Gemüse erwarten. Zwei Kleinbusse begleiten uns auf dem Weg, der eine vollgeladen mit Gepäck, der andere mit Küchengeräten und Essen. Die Versorgung von 36 Pilgern erfordert schon im Vorfeld eine ausführliche Vorbereitung.

Nicht nur der Magen will gefüllt werden, auch die Seele will gestärkt werden. Deshalb gibt es täglich einen Gedankenanstoß. Der Impuls heute lautet: „Was treibt uns an?“ -  Welche Gefühle, Gedanken, Ziele, Wünsche lassen uns das tun, was wir tun? Beim Weitergehen tauschen wir uns zu zweit über unsere Gedanken zu dieser Frage aus.

An unserem Zielort Neydens  richten wir uns im Dorfgemeinschaftshaus ein und schätzen uns glücklich, am Campinglatz duschen zu können. Einige Pilger nutzen die Möglichkeit in der Kirche zu übernachten. Das mag für Außenstehende ebenfalls ungewöhnlich scheinen, ist aber ein tolles Gefühl! Zudem wird so der Platzmangel im Dorfgemeinschaftshaus entschärft, den die Kirche ist nicht so eng.

 

 

Montag, 15.10.2012        Neydens nach Chaumont

 

Die stürmische Nacht endet heute erst um 5:00 Uhr und lässt uns einen verregneten Tag befürchten. Im Laufe des Tages werden wir jedoch von einer wärmenden Herbstsonne verwöhnt. Noch ist es dunkel, als wir auf einen Berg steigen und von dort immer wieder einen letzten Blick auf den Genfer See werfen können. Erste Erkenntnis des Tages: Die Fontäne ist zu dieser Tageszeit abgeschaltet… Auch in Genf muss gespart werden.

Der Impuls, der uns durch den Tag begleitet -„Wurzeln und Flügel“ - führt uns hinein in das Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit als zwei Pole, zwischen denen sich unser Leben bewegt: Wo liegen meine Wurzeln, was gibt mir Kraft? Was verleiht mir im Leben Flügel?

Und wo befinde ich mich in diesem Spannungsfeld? – Diese Fragen begleiten uns – mit einer Wurzel und einer Feder in der Tasche - in der folgenden Stunde, die wir schweigend laufen. Bei einer Rast in der Sonne tauschen wir uns in Kleingruppen über unsere Gedanken aus. In der Mittagspause begegnen uns zum ersten Mal auf dieser Etappe andere Pilgerinnen, die aus Bayern stammen und die Santiago de Compostela so nah wie möglich kommen wollen. Wir laden sie sofort zu unserem Gottesdienst am Abend ein. In der Mittagspause gibt es auch schon die ersten Verluste. Zwei Mitglieder der Gruppe fahren mit den Versorgungsfahrzeugen weiter zur Herberge. Auf einen Abstieg ins Tal folgt ein nicht enden wollender, steiler Aufstieg. Drei Mal versprechen uns Schilder, die Herberge sei nur 15 Minuten entfernt. Nur wenige Pilger können noch das wunderbare Feld von Fliegenpilzen, das uns hier im Wald entgegen leuchtet, bewundern. Viele müssen hier ihre letzten Kräfte mobilisieren.

Wir freuen uns, dass die Pilgerinnen, die wir am Mittag getroffen haben, unserer Einladung gefolgt sind, mit uns zu Abend essen und am Gottesdienst teilnehmen.

 

 

Dienstag, 16.10.2012        Chaumont nach Les Cotes

 

„Die letzten werden die ersten sein“. – Das ist zwar nicht unser Tagesthema, bewahrheitet sich aber schon nach den ersten Metern, die wir gelaufen sind. Am Abend zuvor ist in unserer täglichen Feedback-Runde noch das Thema Achtsamkeit besprochen worden, da einige die eigentlich gut sichtbaren Muscheln, die uns den Weg weisen, übersehen und kurz den Anschluss an die Gruppe verloren haben. Der gute Vorsatz heute aufeinander zu achten ist da, doch schon in der Ortsmitte wartet der Großteil er Gruppe eine halbe Stunde in der Kälte, bevor klar wird: Der Rest hat einen anderen Weg eingeschlagen. Die Zugvögel am Himmel haben scheinbar ebenfalls die Orientierung verloren, denn es sieht so aus, als würden sie hinter dem Horizont zurückkehren und uns erneut überfliegen. So startet die „Hauptgruppe“ in einen wunderschönen Morgen. Der Anblick des vor uns liegenden Tales, an dessen Hang wir hinabsteigen wird von den ersten Sonnenstrahlen magisch erleuchtet. Ein Highlight, kaum dass der Tag begonnen hat! Und „Highlights“ sind heute auch unser Thema. Die Biographien von Dietrich Bonhoeffer und der Dichterin Mascha Kaléko bilden den Rahmen für die Gedankenanstöße, die uns in der folgenden Stunde des Schweigens begleiten: Wann haben wir in der Vergangenheit Glück erfahren? Welche Glücksmomente möchten wir in der Zukunft erleben? Du was ist überhaupt Glück für uns?

Doch auch die „Separatistengruppe“ ist nicht faul. Nachdem klar wird, dass nicht etwa die Hauptgruppe weit voraus ist, sondern weit zurück liegt, wird „gearbeitet“: Unser improvisierter Impuls heißt: Überlege dir 10 Dinge, die dich glücklich machen!

Bei der Mittagsrast kommt es dann zur Wiedervereinigung und zur Auflösung des beiderseitigen Rätsels, warum die jeweils andere Gruppe verschwunden war.

Doch der Tag hält noch weitere Highlights parat: Die Rhone kommt am Nachmittag in Sicht! Und am Abend treffen wir in der Herberge die zwei Pilgerinnen vom Vortag wieder. Sie nehmen wieder am Gottesdienst teil und folgen unserer spontanen Einladung den Weg mit uns ein Stück gemeinsam zu gehen.

 

 

 

Mittwoch, 17.10.2012        Les Cotes nach Chanaz

 

Noch immer können es einige nicht glauben: Auch heute dürfen wir ausschlafen und werden erst um 6 Uhr geweckt. Heute haben wir ein Geburtstagskind: Unser Jüngster wird 20. Auch hier bleibt es bei uns einfach aber herzlich. Wir singen selbstverständlich und einen Geburtstagskuchen gibt es natürlich auch, nur muss dieser zum Verteilen in 38 Stücke zerteilt werden. Wir freuen uns umso mehr über dieses Ereignis, als dieses Jahr der Altersdurchschnitt der Gruppe im Vergleich zu den Vorjahren beträchtlich gestiegen ist. Leider haben sich dieses Jahr außer unserem „Küken“ keine Jugendlichen angemeldet.

Der Impuls geht heute von einem Gedicht Mascha Kalékos aus, das uns vor Augen führt, wie es ist, „grundlos vergnügt“ zu sein. Wir bekommen den Auftrag, uns für das, was uns in der folgenden stillen Stunde an Schönem, aber auch Unschönem begegnet, zu öffnen. Kaléko formuliert es in ihren Zeilen so: Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne – Und an das Wunder niemals ganz gewöhne. Dass alles so erstaunlich bleibt und neu! Ich freue mich, dass ich… Dass ich mich freu.

Als Ort für den Austausch, verbunden mit einer Rast, wird ein Kletterpark mit See gewählt. Hier will sich unser Geburtstagskind wie Tarzan über den See schwingen und fällt prompt ins Wasser.

Der folgende Weg an der Rhone entlang ist ziemlich eintönig, doch der Fund einer Gottesanbeterin unterhält uns für einige Zeit.

Als Unterkunft wird ein Campingplatz angekündigt, doch was wir vorfinden, übersteigt alle unsere Pilgerträume. Wir beziehen nagelneue, kleine Holzhäuser, die auf Stelzen in einem flachen See mit Bootsanlegern stehen. Hier gibt es alles, was wir in den letzten Tagen entbehrt haben: Nur vier oder gar zwei Leute können sich eine Dusche und eine Toilette teilen, es gibt ein Sofa, eine Terrasse… Wir fühlen uns plötzlich wie im Urlaub! Eines aber haben wir heute nicht: Eine Kirche. Und so findet der Gottesdienst im Aufenthaltsraum des Campingplatzes statt.

 

 

 

Donnerstag, 18.10.2012        Chanaz nach Yenne

 

Morgens um viertel vor sieben zeigt sich: Bei manch einem hält die entspannte Urlaubsstimmung an – Das Team hat verschlafen! 

Durch den Ort hindurch geht es direkt steil bergan – oben erwartet uns der Impuls des Tages. Die heute vorgestellte Biographie unterscheidet sich von den anderen: Elisabeth von der Decken kommt aus dem Landkreis Kassel und ist dem ein oder anderen persönlich bekannt. Außergewöhnlich an ihr ist, dass sie mit 52 Jahren ihre gesamte Existenz in Deutschland aufgibt um nach Jerusalem zu gehen. Dieser Entscheidung geht auf einen früheren Besuch zurück, bei dem sie deutlich spürt, dass dies der Ort ist, an dem sie fortan leben möchte. Wir werden also mit der Frage auf den Weg geschickt: Wofür brenne ich? – Wann habe ich deutlich gespürt, dass einem inneren Gefühl folgen muss?

Der Ort der Mittagspause wird heute erst nach langem hin und her gefunden. Aber schließlich können sich dann doch alle ausgiebig stärken und mit frischen Kräften über die Gedanken zur Frage austauschen. Nach einem weiteren steilen Anstieg zu einem Aussichtspunkt mit einer Kapelle geht es noch viel steiler wieder hinunter ins Tal. Den Abschluss der heutigen Etappe bildet ein direkt an der Rhone entlang führender Pfad, der so dicht bewachsen ist, dass er nur hin und wieder Blicke auf das Wasser zulässt. In Yenne angekommen werden wir zunächst ins nahe Informationszentrum geleitet, wo jedoch nicht unser dringender Wunsch nach Erfrischung erfüllt wird, sondern man uns – man höre und staune – zu einem Rundgang durch die Stadt einlädt. Das schafft jedoch der willigste Pilger nicht. Da stellen wir uns doch lieber in die Reihe, um die eine Dusche, die uns im Dorfgemeinschaftshaus zur Verfügung steht, zu nutzen, selbst wenn sie eiskalt ist. Unsere Küchenengel haben zum Abendessen – Nudeln mit Bolognese - für uns tolle Salate gezaubert. Nach dem Gottesdienst besucht uns tatsächlich der Bürgermeister des Ortes und jetzt können wir uns auch auf seine Gastfreundschaft einlassen. Seine Begleitung hat Wein und Kuchen, Spezialitäten aus der Region, mitgebracht. So fühlen wir uns auch heute Abend wieder fast wie im Pilgerhimmel.

 

 

Freitag, 19.10.2012        Yenne nach Saint-Genix-sur-Guiers

 

Pilgertelegramm: 5:30 Aufstehen – 6:30 Frühstück – 7:30 Start in den Tag mit Morgengruß – den Berg hinauf – den Berg hinauf – den Berg hinauf – Pause – den Berg hinauf – Impuls: Thema Umwege (einen solchen wollen wir heute auf keinen Fall machen) – den Berg hinauf – Entscheidung: Gehe ich rechts oder gehe ich links? (die vom „rechten Weg abgehen“ werden mit einer wunderbaren Aussicht auf der Spitze des Berges belohnt) – von nun an geht´s bergab, bergab, bergab – Späte Mittagspause in der Idylle eines kleinen Dorfes– wir tauschen uns über „Lebensweisheiten“ aus - und weiter bergab – der Tag ist so lang, dass am Abend das Feedback ausfällt

 

 

 

Samstag, 20.10.2012        Saint Genix nach Les Abrets

 

Wichtig wie jeden Tag: die Weckzeit. Heute freuen wir uns über 6 Uhr!! Die erste Pilgerin muss sich für dieses Jahr von uns verabschieden. Sie wird von unseren Fahrern zum Zug gebracht. Die Tagesetappe ist kurz, aber die Sonne brennt heiß vom wolkenlosen Himmel. Den Impuls können wir heute umso mehr genießen, da wir am Feldrand lagern und pausieren. Es geht um Begegnungen, die unser Leben in der ein oder anderen Art und Weise geprägt haben. Wir zeichnen in unsere Texthefte eine Lebenslinie mit eben diesen Begegnungen und tauschen uns anschließen in kleinen Gruppen darüber aus. Als wir wieder aufbrechen haben wir das Gefühl, als wären wir Mitte Juli unterwegs. Wir bemerken, dass es gut ist, nicht im Sommer unterwegs zu sein. Und obwohl die Etappe verhältnismäßig flach ist, fordert die zunehmend steiler werdende geteerte Landstraße, die in den Ort führt, am Ende fast wieder unsere letzten Kräfte. Es gibt nun schon mittags eine Feedback-Runde, aber der Gottesdienst fällt aus. Und nachmittags, Überraschung! – gibt es frei!

Die Pilger strömen in die Stadt und kommen freudestrahlend mit liebevoll verzierten kleinen Törtchen, Èclairs, Petit Fours, aber auch anderen Konsum- und Luxusartikeln aus dem Supermarkt zurück ins „Lager“. Unsere Unterkunft heute ist sehr beengt – wie schlafen Matte an Matte in einem einzigen Raum. Mittags sieht es hier ziemlich chaotisch aus. Und als plötzlich ein Feuerwehrmann in der Tür steht ist nicht klar, auf welcher Seite das Erstaunen größer ist. Es stellt sich jedoch heraus, dass er sich in der Adresse geirrt hat… In allen Cafés des Ortes, an die wir uns am Nachmittag begeben, und selbst im letzten Supermarktwinkel begegnen wir noch bekannten Gesichtern… Beim Abendessen geht es französisch zu: Manche setzen sich mit Rotwein, Käse und Baguette vor unsere Herberge, andere genießen die Kochkunst der Franzosen im Restaurant. Hier macht es uns auch schon (fast) nichts mehr aus, in Trekkingsandalen und Socken zu sitzen. Es gibt aber auch die italienische Pizza-Variante. Nachts sieht unser Lager zwar nicht weniger chaotisch aus, aber als die Letzten hereinschleichen, schnarcht es friedlich aus allen Richtungen.

 

 

 

Sonntag, 21.10.2012        Les Abrets nach Charavines

 

Ab 5:00Uhr stehen wir am Waschbecken - und hiervon gibt es nur ein einziges. Was zu Hause unvorstellbar ist klappt hier unvorstellbar gut. Es ist tatsächlich möglich trotz dieser Umstände pünktlich um 6:00 Uhr mit dem Frühstück zu beginnen. Und dabei sind wir guter Stimmung, obwohl uns heute unser Jüngster verlässt und mit dem Zug nach Hause fährt. Durch die Dunkelheit ziehen wir in den Morgen, durch Wiesen und sanfte Hügel hinauf (was wir so sanft nennen inzwischen). In einem kleinen Ort besuchen wir die Kirche und lauschen dort auch dem heutigen Impuls. Es geht wieder um Menschen, die uns im Leben begegnet und wichtig geworden sind. An sie sollen wir einen Brief verfassen, in dem Ungesagtes zur Sprache kommen darf. Viele beschreiben am Abend in der Feedback-Runde, dass sie diese Aufgabe sehr bewegt hat. Immer wieder staunen wir, wie unsere Küchenengel jede Mittagspause neue kulinarische Leckerbissen zaubern. Der Höhlenkäse aus der Region ist allerdings nicht jedermanns Geschmack.

Wir erreichen früh unser heutiges Ziel. Ein Campingplatz am See, der verführerisch in der Mittagssonne liegt. Wir dürfen uns heute von dem Tohuwabohu der gestrigen Unterkunft erholen und zu viert in kleinen Hütten einziehen. Endlich wieder eine richtige Dusche!!! Doch auch an diesem Ort verläuft nicht alles gewohnt: Feedback und Gottesdienst finden unter dem Vordach des Spülhauses statt – im Hintergrund stehen noch große Plastikboxen mit Geschirr auf den Spülsteinen, im Vordergrund lehnt unser Kreuz an einem einfachen Bierzelttisch. Wir singen heute einfache Taizé – Lieder.

 

 

 

Montag, 22.10.2012        Charavines nach Faramens

 

Heute steht die längste Etappe des diesjährigen Abschnitts an. Das heißt natürlich um 5:00 Uhr wecken. Das Frühstück findet wieder im Freien statt. Im Dunklen geht es los. Nachdem die Beschreibung des Weges uns einen grauenhaften Anstieg und einen noch grauenhafteren Abstieg prophezeit, macht sich eine erwartungsvolle Spannung breit, wann und wo dieser grauenvollste aller Berge in Sicht kommt. Solche Prophezeiungen können nur gemacht werden, weil alle Wege lange vor der eigentlichen Reise bereits erkundet werden. Das bedeutet, dass es entweder Frühling oder Sommer ist, wenn sich einzelne Mitglieder des Teams aufmachen, und damit unter Umständen sehr heiß. Als wir dann den „Hügel“ zunächst hinauf und nach einer Pause auf der anderen Seite wieder runter gestiegen sind, stellen wir fest, dass er bei den jetzt herrschenden Temperaturen deutlich an Schecken verloren hat. Der physische Berg liegt hinter uns, als wir uns mit psychischen Erhebungen beschäftigen sollen. Der heutige Impuls legt uns nahe, uns mit Tiefpunkten in unserer Vergangenheit auseinander zu setzen.

Wann in meinem Leben habe ich eine Krise erlebt? Welche Gefühle haben die Krise bestimmt? Woran konntest du dich festhalten?

Weil man bei so etwas Tiefgehendem etwas zum Festhalten gebrauchen kann, erhalten alle einen Schutzengel zur Unterstützung. Der Tag bleibt aufgrund der Streckenlänge aber auch äußerlich anstrengend. Insgesamt laufen wir 35 Kilometer. Endlich in der Unterkunft angekommen, richten wir uns so gut es geht in unserer Einraumwohngemeinschaft ein und essen anschließend zu Abend. Feedback und Gottesdienst finden auch heute im Speisesaal statt, da die Kirche nebenan nicht zur Verfügung steht.

 

 

 

Dienstag, 23.10.2012        Faramans nach Moissieu-sur-Dolon

 

Heute können wir es uns aufgrund der Streckenlänge leisten, erst um 6:00 Uhr aufzustehen. Wir haben wieder ein Geburtstagskind: Eine der Köchinnen wird aus dem Schlaf gesungen und während des Frühstücks mit Geschenken, Wunderkerzen und einem weiteren Geburtstagslied bedacht.  Die Strecke ist heute recht übersichtlich. Die Sonne ist allerdings lange hinter hartnäckigem Hochnebel verborgen, so dass es am Vormittag recht kühl ist. Am frühen Nachmittag hat die Sonne den Nebel endlich aufgelöst und scheint vom blau-weißen Himmel. Der heutige Impuls knüpft an den Impuls vom Vortag an. Wir schauen auf die Phasen einer Krise.  Auf unserem weiteren Weg queren wir die TGV-Hochgeschwindigkeitsstrecke, auf der die Züge durch das Tal rauschen. Pause machen wir heute an einem sonnenbeschienenen Hang, auf dem wir uns großzügig verteilen und verweilen.

Um die letzte Waldecke gebogen, präsentiert sich uns unsere Herberge auf dem flach abfallenden Gelände in der Nachmittagssonne: Ein echtes Chateau. Wir ziehen singend in den Schlosshof ein und werden von der Schlossherrin, ihrer Schwiegertochter und dem Hofhund begrüßt. Aus Anlass des Geburtstags gibt es Kaffee und Kuchen und danach einen Becher Sekt. Abends essen wir gemeinsam mit der Schlossherrin Tafelspitz mit Meerrettich und zum Nachtisch Obstsalat. Auch am Gottesdienst nimmt die Dame des Hauses auf unsere Einladung hin teil und bedankt sich dafür gerührt bei uns.

 

  

Mittwoch, 24.10.2012        Moissieu-sur-Dolon nach Clonas

 

Heute stehen wir um 6:00 Uhr auf. Nach dem Frühstück verstauen wir unser Siebensachen in den Begleitfahrzeugen und nehmen schweren Herzens Abschied vom Chateau und der Schlossherrin. Auch heute herrscht wieder Hochnebel, der sich erst gegen 13:00 Uhr auflösen wird. Nach einem kurzen steilen Anstieg, suchen wir uns an einer windgeschützten Waldecke einen geeigneten Lagerplatz. Die Baumstämme, die hier gestapelt sind, eignen sich hervorragend zum Sitzen und für den Impuls. Wir erfahren etwas über den letzten Abschnitt des Lebens von Elisabeth von der Decken und sollen uns überlegen, wie wir unser bisheriges Leben sowohl aus der Sicht eines Sterbenden als auch gleichzeitig aus Sicht des Beistands betrachten würden: Was war in meinem Leben gut?

Nach einer Stunde des schweigenden Gehens und einem kleinen Umweg von einem Kilometer, findet der Austausch im beginnenden Sonnenschein statt. Der weitere Weg bringt keine Überraschungen. Ganz im Gegensatz dazu erfahren wir, dass uns eine unserer Pilgerschwestern mehr still als heimlich verlassen hat. Die größte Überraschung erwartet uns zu unserem Gottesdienst, zu dem wir nach langer Zeit mal wieder Gäste aus der Gemeinde begrüßen können und die sogar das Abendmahl mit uns feiern. Zum Dank erhalten sie eine Kerze von uns und sie spielen uns ein französisches Pilgerlied vor. Die meisten von uns nutzen den frühen Ausklang des Abends dazu früh ins Bett zu gehen.

 

 

Donnerstag, 25.10.2012        Clonas nach St Julien-Molin-Molette

 

Wir starten im „Morgen-Grauen“ auf Hauptverkehrsstraßen in Richtung Rhone. Wegen der Dunkelheit ist es ziemlich schwer, den Weg zu finden und sich in einer Reihe unfallfrei durch den französischen Verkehr zu schlängeln. Um 8:00 Uhr haben wir das Gefühl, dass die Straßenbeleuchtung aus- und das Tageslicht eingeschaltet wird. Kurz vor der Rhone führt uns der Jakobsweg an der Außenseite der Leitplanke des Brückenzubringers entlang. Als die eigentliche Brücke erreicht ist, müssen alle die Leitplanke übersteigen, um über den ca. 300 Meter breiten Fluss zu gelangen, und die Leitplanke am anderen Ufer wieder überqueren. Ab jetzt geht es vorzugsweise bergauf. Zunächst steigen wir einen Weinberg hinauf, machen eine kurze Pause und laufen durch Obstplantagen unserem Impuls entgegen. Als wir an der Kirche ankommen, in der der Impuls stattfinden soll, stellt sich heraus, dass sie verschlossen ist, es scheint aber bereits die Sonne, so dass wir auf dem Kirchenvorplatz sitzen können. Heute sollen wir vier Minuten unser Spiegelbild in einem kleinen Spiegel betrachten und dabei auch hinter das Bild im Spiegel schauen. Weiter geht es schweigend bergauf Richtung Mittagspause. Diese findet auf einer Wiese abseits der Straße statt. Nach dem Essen setzen wir uns in kleinen Gruppen, die nach Alter gestaffelt sind, zum Austausch zusammen. Währenddessen scheinen wir einige Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, denn ein Autofahrer fährt unter Missachtung der Tatsache, dass die Straße von einer Rechts- in eine Linkskurve wechselt, beinahe in den Graben. Nach dem wir uns wieder in Marsch gesetzt haben, müssen wir einen sehr steilen, endlos erscheinenden Anstieg bewältigen, nur um auf der anderen Seite des Berges zu unserem Tagesziel, dem Städtchen St Julien-Molin-Molette, hinunter zu steigen. Hier erwartet uns die (wie angekündigt) scheußlichste Unterkunft der Reise, die man nur als Bruchbude bezeichnen kann, in der aber im oberen Geschoss sogar Familien mit Kindern leben. Deshalb beschließen vier von uns sich ein anderes Quartier zu suchen. Weitere drei bauen sich im Hinterhof ihr Zelt auf, um dort zu nächtigen. Dadurch reichen die vorhandenen Betten für fast alle aus und nur wenige müssen in den Zimmern auf dem Boden schlafen. Den Gottesdienst und das Abendessen lassen wir uns jedoch nicht vermiesen - im Gegenteil: Manche von uns bestehen darauf, dass so etwas eben auch zum Pilgern gehöre. Trotzdem sind wir froh, hier nicht etwa unseren letzten Abend feiern zu müssen, sondern am nächsten Morgen zu unserer letzten Etappe aufbrechen zu können.

 

 

Freitag, 26.10.2012            St Julien-Molin-Molette nach Les Sétoux

 

Nachdem wir unsere morgendlichen, schon hinlänglich bekannten Verrichtungen beendet haben, geht es gleich an der nächsten Häuserecke mal wieder steil bergauf aus der Stadt hinaus. Im Übrigen hat der Wetterbericht Recht behalten, denn es regnet. Der Impuls wurde deshalb noch in unserer Unterkunft improvisiert. Wir sollen uns eines von zig verschiedenen Puzzleteilen aussuchen, die sich in Form und Farbe unterscheiden - und dieses zunächst einmal trocken durch den Regen bringe. Außerdem dürfen wir über folgendes nachdenken:

Wo sehe ich meinen Platz in unserer Gruppe? Was war mein Ziel, an der Pilgertour teilzunehmen? Welche Ziele setze ich mir überhaupt für mein Leben?

Für den Austausch finden wir Gott sei Dank eine offene Kirche. Hier setzen wir in Gruppen unsere Puzzleteile zusammen und tauschen uns währenddessen über unsere Gedanken aus.

Insgesamt gesehen geht es heute stetig aber recht mäßig bergauf und auch der Regen ist, im Vergleich zu den Regentagen auf früheren Pilgerwegen, erträglich.

Der Ort der Mittagspause ist wieder hervorragend ausgewählt und vorbereitet, obwohl wir deutlich vor der vereinbarten Zeit ankommen. Wegen des Regens ist neben dem Pavillon, der das Essen schützt, auch ein Zeltbahnvordach an einem Gebäude angebracht worden, damit wir im Trocknen essen können. Nach dem Mittagessen erreichen wir den mit 1200 Meter höchsten Punkt dieser Etappe.

Als wir in Les Sétoux ankommen, suchen wir zunächst die Kirche auf, singen ein Lied und entscheiden uns dann aus praktischen Erwägungen dazu den Abschlussgottesdienst in der Unterkunft zu feiern. Nachdem wir die Unterkunft erreicht haben, stellt sich jedoch heraus, dass die örtliche Presse die Werbetrommel für uns gerührt hat und ein Gottesdienst um 19:00 Uhr in der Kirche angekündigt ist. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als uns schnell zu duschen und einzurichten, die Feedback-Runde zu absolvieren und dann zur Kirche zu eilen. Der Werbefeldzug scheint von Erfolg gekrönt zu sein, denn es sind schon einige Dorfbewohner anwesend, während wir noch die nötigen Vorbereitungen treffen. Es bestätigt sich auch hier, dass der Gottesdienst gleich noch mal so schön ist, wenn wir Gäste haben. Am Ende des Gottesdienstes setzen wir auf dem Boden vor dem Altar all unsere Puzzleteile zusammen - das Gesamtbild ist beeindruckend, weil es zwar Überstände gibt, aber ansonsten ganz und gar keine Lücke bleibt. Nach dem Gottesdienst gibt es zum Abendessen Jägerschnitzel mit Bratkartoffeln und verschiedenen Salaten. Unsere Köche haben sich damit und zudem mit einem doppelten Nachtisch selbst übertroffen (wobei der eine von beiden als "Vortisch" serviert wird). Später am Abend feiern wir noch ein wenig den gelungenen Abschluss unserer Pilgerreise …

 

Samstag, 27.10.2012            Rückfahrt nach Baunatal

 

Weil der Bus, der uns nach Hause bringen soll, erst um 9:00 Uhr da sein wird, können wir heute bis 7:00 Uhr schlafen. Für manche ist es trotzdem eine kurze Nacht geworden. Draußen ist es sehr ungemütlich: windig, regnerisch und kalt. Nach einem Frühstück in gewohnter Manier, packen wir unsere Sachen und verabschieden uns von den beiden Mitpilgerinnen, die heute noch etwa 17 Kilometer zurücklegen wollen. Alle wissen, dass das kein Vergnügen werden wird. Wir indes begeben uns auf die ca. 1000 Kilometer lange Rückreise in einem beheizten Reisebus. Auch unterwegs wird das Wetter nicht besser, teilweise liegt sogar schon Schnee. In Karlsruhe und Wetterau verabschieden sich einige Pilgerinnen und Pilger, um ihre weiter Heimreise anzutreten. Für alle anderen endet unsere Pilgerreise endgültig, als wir nach 13 Stunden Fahrt in Baunatal ankommen. Wir verabschieden uns von einander und freuen uns auf den Pilgergottesdienst am 04.11.2012 in der Gethsemane-Kirche in Baunatal und das Nachtreffen im Februar 2013!