Freitag Nachmittag im Juni der 60er Jahre. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien. Die Schulglocke ertönte mit einem schrillen Ton - Schulende! Jeder packt seinen Ranzen zusammen und eilt schnellen Schrittes das Treppenhaus hinunter, über den Schulhof ins Wochenende. Mein kurzer Weg nach Hause führt mich über den betriebsamen Kasseler Königsplatz, vorbei an dem Neckermann Kaufhaus (vielleicht war es auch erst eine Baustelle?), durch die Grünanlage um die Lutherkirche, von der nur der Turm erhalten ist, während das Kirchenschiff ausgebrannt und zum Teil eingefallen ist. Vorbei an wenigen Grabstätten schlendere ich auf unser Wohnhaus auf der anderen Straßenseite des Lutherplatzes zu. Die kleine Kneipe links unten im Haus hat schon geöffnet, sehe ich. Sie wird von unserem Vermieter geführt, ein kleiner Mann mit Schnäuzer und immer eine Zigarre im Mund. Seine Frau ist dagegen etwas größer und kräftiger gebaut. Eher Hausmittig neben der Kneipe befindet sich der hellgelbe Eingang zu den neun Mietwohnungen des rosa-weiß gestreiften Hauses. Die restliche Erdgeschosshälfte hat zwei große Schaufenster von einem Elektroladen. Auf dem knappen Vordach steht in hellblauem Neon  der Blechbuchstabenschriftzug Grundig.
Mit schnellen Schritten überquere ich die Kopfsteinpflasterstraße, werde von einer vorbeifahrenden Straßenbahn in der Mitte gebremst, und laufe dann den Rest bis zum gegenüberliegenden breiten Bürgersteig. Nach wenigen Metern ziehe ich meinem Schlüssel aus der Hosentasche und betrete das aus hellen Bruchsteinen belegte Podest. Ich öffne die kiefernfarbene Haustür, und eile in die erste Etage. Mit dem Kreuzschlüssel öffne ich die linke Wohnungstür und betrete unsere Wohnung. Ich stehe in dem nicht zu großen Flur mit kleinen schwarz-weiß linierten Teppichfliesen. Im Uhrzeigersinn ist die Besenkammer, Küche, Bad, Elternschlafzimmer, Wohnzimmer und unser Kinderzimmer zu finden. An der Wand hängt unser erstes Telefon, elfenbeinfarben mit Wählscheibe, 1-9-7-4.
Ich stelle meinen Ranzen im Kinderzimmer ab, schaue aus dem Fenster und sehe einige Personen an der Straßenbahnhaltestelle. Das kleine weiße Podest mitten auf der Kreuzung ist noch leer. Zu Feierabend steht hier ein Verkehrspolizist und regelt den immer stärker werdenden Verkehr der 5-adrigen Kreuzung. Meine beiden Brüder sind nicht da. Wir teilen uns das Zimmer. Ein großer Schrank, ein Hochbett, ein Bett daneben, eine Couch vor der Heizung am rechten Fenster, meine kleine Bastelecke mit Tischchen am linken, zwei Nachtspinte.
In der engen Küche stand rechts auf dem Gasherd schon ein Topf mit Schnippelbohnensuppe. Daneben auf dem Kühlschrank eine große Glasschüssel Vanillepudding und die fünf kleineren geriffelten Glasschälchen, ebenso mit Vanillepudding gefüllt. Wenn der Pudding einen Tag steht, bildet sich eine feste Haut obendrauf und der Pudding kann auf die Handinnenfläche gestürzt werden. Dann konnte sozusagen von der Hand gegessen werden - das war nicht gern gesehen, aber mal was anderes.
Im Bad nebenan wasche ich mir die Hände. Die Waschmaschine läuft noch. Sie wird von oben befüllt und hat einen Mechanismus, der die Wäsche hin und her bewegt - keine Trommel . Zwei Drehschalter für EIN-AUS und Temperatur mit je einer Kontrolllampe befinden sich auf der Bedienungsleiste hinter der Öffnung. Diese Glimmlampen mit einem roten Plastikhut leuchten bei Betrieb und faszinieren mich immer wieder. Als die Waschmaschine später verschrottet wurde, habe ich sie mir als Orientierungslichter ausgebaut und habe sie heute noch irgendwo.
In der Küche hole ich mir einen Teller aus dem schmalen hohen Geschirrschrank hinter der Tür und schöpfe mir von der lauwarmen Suppe auf. Der Tisch steht  vor dem Fenster, von dem ich die Spatzen beobachten kann, die sich auf dem geteerten Flachdach gerade zanken. Sie hüpfen unter lautstarkem Getschilpe auf dem abschließenden Mauerabsatz von Tonziegel zu Tonziegel.
Der Teller ist leer. In der Spüle hinter mir, neben dem Herd, wasche ich schnell ab und räume die Teile weg. Mitnehmen brauche ich nichts. Am Schlüsselhaken im Flur neben der Wohnungstür greife ich zu meinem Schlüssel und ziehe hinter mir die Türe zu - abschließen nicht vergessen. Zwei Treppen tiefer im Keller steht mein Fahrrad. Gegenüber den Wasserleitungen befindet sich unser Keller. Eine hellgrau gestrichene Holztür mit einem silbrigen BURG Schloss am Verschlussriegel. Ich öffne das Vorhängeschloss und schiebe den Riegel zurück. Beim öffnen der Tür strömt mir der Geruch von Kartoffeln entgegen. Ich ziehe meinen Drahtesel heraus, verschließe die Tür und eine Treppe weiter oben, ziehe ich die Haustür an der messingfarbigen Klinke hinter mir zu. Wochenende.