Warum Pilgern?

„Pilgerst du diesen Herbst wieder? 
Das ist ja schon ein bisschen verrückt!“ 

Diesen Satz habe ich schon oft gehört, von Bekannten, Arbeitskollegen, Verwandten, die auf mein Projekt mit Staunen, Neugier, Skepsis und zum Teil auch Bewunderung reagieren. Eine gewisse Faszination geht aus von der Idee, die jahrhundertealte Tradition des Jakobspilgerns aufzunehmen und sich auf den Weg zu machen – rund 2400 km in etwa 10 Jahren, quer durch Europa. 

Als ich mich zur ersten Etappe von Würzburg nach Heubach anmeldete, gab es gemischte Gefühle bei mir: Einerseits große Vorfreude und Begeisterung, andererseits auch die Angst vor dem Zusammenleben mit so vielen fremden Menschen auf engstem Raum, dem Verlust von Privatsphäre und den Bequemlichkeiten des Alltags. Aber ich bin der Faszination des Pilgerns bereits beim ersten Mal erlegen und spüre sie immer wieder neu, auch wenn ich jedes Mal im Herbst, kurz bevor es losgeht, überlege, warum ich das freiwillig auf mich nehme.

Konkret heißt das: 
Aufstehen zumeist zwischen 5 und 6 Uhr morgens, dann rollt jeder seine Matte und seinen Schlafsack ein und packt seine Sachen. Nach Luthers Morgensegen und einem gemeinsamen Lied wird gefrühstückt, dann Aufbruch. Irgendwann am Vormittag ein thematischer Impuls, verbunden mit Fragen, über die in einer anschließenden einstündigen Schweigephase nachgedacht wird. Zum Thema und den Fragen gibt es später einen Austausch, manchmal zu zweit im Gehen, oft in Kleingruppen. 

Mehrmals am Tag gibt es Pausen, bei denen wir zum Teil von unseren Fahrern mit den Begleitfahrzeugen mit frischem Obst, Getränken und selbstgemachter, köstlicher Quarkspeise versorgt werden. Nach 20-30 km am Tag kommen wir am späten Nachmittag im jeweiligen Quartier an, richten die Schlafplätze ein und freuen uns über die mehr oder weniger vorhandenen Möglichkeiten, sich den Schweiß und den Dreck von der Haut zu spülen, manchmal auch nur ein Waschbecken und zwei Toiletten für 40 Pilger. 

Nach dem Abendessen folgt unser Gottesdienst, den die jeweils für das Tagesthema Verantwortlichen aus dem Leitungsteam vorbereitet haben. Immer werden inhaltliche Schwerpunkte des Tages nochmals vertieft, mit Gedanken aus den Austauschrunden ergänzt. Das Kernstück des Gottesdienstes ist die Feier des Abendmahls, das wir bewusst als Gemeinschaftsmahl begehen, indem wir rund um den Altar stehen und uns nach dem Friedensgruß gegenseitig Brot und Wein weiterreichen. 

Der Abend endet mit einer Feedbackrunde, in der jeder ein „Resonanzwort“ für den Tag nennt und positive oder auch negative Kritik anbringen kann, gemeinsamem Singen und Luthers Abendsegen. 

Was das Pilgern für mich so wertvoll und besonders macht, sind vor allem drei Aspekte:
•    Ich begebe mich bewusst in einen Zustand, in dem ich mich jenseits aller üblichen alltäglichen Gewohnheiten und Lebensumstände befinde. Ich empfinde mich in dieser Zeit als „draußen“  - und dieser Perspektivwechsel schärft den Blick und ist heilsam.

•    Wenn das Gehen meine einzige Aufgabe ist und ich von vielen Pflichten und Ablenkungen befreit bin, gelange ich zu einer größeren Achtsamkeit, sowohl gegenüber dem Außen als auch dem Innen. Ich spüre intensiv meinen Körper, die manchmal schmerzenden Füße und Muskeln, die Natur um mich herum, nehme andere Menschen aufmerksamer wahr. Aber auch meine eigenen Gedanken und Gefühle treten stärker in Bewusstsein, manches, das ich sonst verdränge und das mir dann auf einmal sehr nahe kommt.

•    Der tägliche Umgang mit den Widrigkeiten des Wetters, des Weges und den Eigenarten meiner Mitpilger ist eine besondere Übung in Gelassenheit und Toleranz. Indem ich dem, was mir im Verlauf des Weges begegnet immer weniger Widerstand entgegensetze, erfahre ich, wie gut es ein kann, mich selbst und meine Vorstellungen vom Leben immer mehr loszulassen und auf Gott zu vertrauen.

Auf diese Weise komme ich von jeder Etappe des Pilgerwegs ein wenig anders zurück, als ich losgelaufen bin und habe nicht nur einen äußeren, sondern auch einen inneren Weg bewältigt. 

Kristina Georges